Es sollte mein erstes direktes Streikerlebnis werden. Der Klaus von der GDL hatte am Dienstag kurzerhand verkündet, dass man ab dem Mittwoch (meinem Reisetag) um 22:00 Uhr streiken würde.
Mmh, hieß das, ab 22:00 Uhr fahren keine Züge mehr ab, oder um 22:00 Uhr bleiben alle Züge stehen?
Am Mittwoch teilte mir der Navigator mit, mein Zug fiele schon vorher aus, wegen Reparatur. Nein, doch nicht, nur würde er erst ab Leipzig fahren und dann auch nur bis Frankfurt.
Ankunft in Frankfurt 21:03 Uhr, Abfahrt S-Bahn 21:35 Uhr: Hui, das könnte knapp werden, denn die Ankunft der S-Bahn war für 22:10 in Wiesbaden geplant. Das hieße je nach Auslegung: „normal Ankommen“, „Stranden in Mainz“ oder „Stranden in Frankfurt“.
Mainz machte mir jetzt keine Angst, da gibt es Busverbindungen und Brücken über den Rhein, da muss ich nicht schwimmen, aber eine Nicht-Zug-Verbindung nachts von Frankfurt nach Wiesbaden kam mir ziemlich tricky vor, zumal ich mir in den Nahverkehrs-Netzen dieses Ballungsraums verloren vorkam.
Die Chance auf eine Beratung und Hilfe, war angesichts der Menge der Hilflosen sicher auch nicht schnell und einfach zu kriegen.
Aber der Reihe nach.
Der Navigator hob die Zugbindung auf und mir war es nunmehr erlaubt, mit allen verfügbaren Mitteln nach Wiesbaden zu kommen.
Als erstes also nach Leipzig. Der Ersatz ICE war pünktlich und kam auch pünktlich in Leipzig an. Aber der ICE nach Frankfurt war nicht sehen.
Moment, doch da steht ja ein verschämter halber ICE im Bahnhof. Der Ersatzzug für die paar Dresdner war doppelt so lang, wie das ICEchen, dass uns und „Millionen“ Leipziger nach Frankfurt bringen sollte. Also gut, ursprünglich war das Endziel ja Saarbrücken, aber der Zug würde in Frankfurt enden.
Das bestätigte leider meinen Verdacht, dass alle Züge nur bis 22:00 Uhr fahren würden, oder eben gar nicht mehr losfahren, wenn das Ziel nicht bis dahin erreicht werden kann.
Ich nahm meine Platz ein und wunderte mich etwas über eine Servietten-Phalanx oberhalb des Fensters. Ich überging es erst mal schulterzuckend, es gab auch keine Hinweise auf negative Vorkommnisse an meinem Platz.
Während wir durch den Südosten der Republik schuckelten, prüfte ich immer wieder meine Optionen. Ab etwa Erfurt fielen die Linien S1 und S9 aus und die S8 wurde auf stündlichen Fahrverkehr verkürzt. Das wäre relativ egal, dann wäre es etwas Wartezeit, aber ich würde noch nach Wiesbaden kommen.
Spätestens ab Bad Hersfeld war klar, auch keine S8 würde mehr den Bahnhof in Frankfurt verlassen. Aber die VIAS würde weiterfahren. Hoffnung.
Zwischen Bad Hersfeld und Fulda hielt die Serviettenphalanx dem Druck des Kondenswassers der Klimaanlage nicht mehr stand und steter Tropfen (von der Decke) nässte mein Bein, und meine rechte Körperhälfte.
Ich machte mich davon. Aber diesmal war der Zug wirklich extrem voll und ich blieb einfach im Bordbistro bei den „Verlorenen“ stehen.
In Fulda stieg ein junger Mann zu, Anfang der Zwanziger würde ich schätzen. Offenes Herz und offen kommunikationsfreudig.
Nach der Begrüßungsdurchsage, fiel ein Schatten auf sein Gesicht. „Fährt der Zug gar nicht nach Hannover?“ – „Nein, der fährt nach Frankfurt.“ – „Ach du Scheixxe, welche Station ist denn die nächste zum Aussteigen?“ – „Frankfurt Hauptbahnhof.“ – „OMG, wie, komme ich denn da heute noch nach Hannover?“ – „Mmhhh… Mit der Bahn jedenfalls nicht, die streikt ab 22:00 Uhr.“ – „Oh, dann lasse ich mich abholen, oder nehme einen Mietwagen, oder ich warte auf den ersten Zug.“
Das sind natürlich alles Optionen. Zumindest für den Zug konnte ich mitteilen, dass gegen 6:45 Uhr aktuell noch ein Zug nach Hannover fahren könnte, wenn er nicht zwischenzeitlich gecancelt werden sollte.
Er guckte noch nach Mietwagen und Carsharing und führte auch noch zwei Telefonate.
Einen Kräutertee später verabschiedete er sich und verschwand im Zug.
Ich konzentrierte mich wieder auf meinen Reiseverlauf.
Mit reichlich Verspätung kamen wir in Frankfurt an. Der Bahnhof war fast leer, es war auch schon 21:45 Uhr. Alles zu, kaum Züge auf den Bahnsteigen und überwiegende Absenz von Menschen. Die Mitreisenden verstreuten sich ziemlich schnell und ich machte mich auf zu Gleis 23, weil dort um 21:55 Uhr mein VIA fahren sollte.
Es waren noch reichlich Menschen vor Ort und an der Anzeigetafel stand er auch.
Während des Wartens, hörte man ununterbrochen die Ansagen zu den ausgefallenen Fahrten.
Gegen 22 Uhr rollte er dann auch ein und alles nahm Platz im Inneren.
Ich hatte einen Sitzplatz direkt neben der Tür zum Führerstand und als unsere Zugführerin kam, hörte ich aus der Kanzel jede Menge Gespräch. Im einzelnen habe ich das nicht verstanden, aber mir schwante ob der Länge dieser Wortwechsel nichts gutes.
22:10 Uhr – „Liebe Fahrgäste, es tut mir sehr leid, aber ich darf den Bahnhof nicht mehr verlassen, da der Streik auch die Fahrdienstleitungen erfasst hat. Ich muss den Zug jetzt in das Depot bringen, und bitte Sie auszusteigen.“
Erst mal sammeln und überlegen, wie das Problem jetzt zu lösen sein könnte, aber es stellte sich keine rechte Idee ein, außer Übernachtung in Frankfurt.
Während ich so ganz langsam am Bahnsteig langtrotte und anderen zuhöre die Fahrgemeinschaften bilden wollen, oder die Information erstürmen wollen, erschallt es aus den Zuglautsprechern: „Liebe Fahrgäste. Bitte steigen Sie wieder ein, die Fahrdienstleitung hat die Fahrt freigegeben. Bitte wieder einsteigen!“.
Schwupps saß ich wieder drinnen. Keine Ahnung, wie viele Fahrgäste aus den vordersten Wagen inzwischen schon aus dem Bahnhof verschwunden waren, aber ich hatte das Gefühl, dass es doch etwas weniger waren, die den Wiedereinstieg absolviert hatten.
Manchmal zahlt sich Schnelligkeit doch nicht aus. Mein Gebummel rettet mir den Reiseabschluss in Wiesbaden.
Eine knappe Stunde später als geplant, komme ich in Wiesbaden an. Hier ist der Bahnhof leer, ratzeputz. Anzeigetafeln voller nicht mehr fahrender Züge. Am beeindruckendsten ist allerdings die Ruhe.
Gute Nacht, DB!